Die Basis-Information zum Nahost-Konflikt.
Bethlehem in großen Nöten – Ein Plädoyer für Gerechtigkeit

2020/21 erstmals ohne Besucher aus aller Welt.
Weihnachtsstadt, Kulturhauptstadt und
Paris von Zentralpalästina“

Eine aufwühlender Hintergrundbericht mit Links und Fotos von Fritz Weber

 

Inhaltsüberblick:

1. Zum Geleit: Das „Friedenslicht aus Bethlehem“ und wen es symbolisiert
2. Narrative im Widerstreit – Die Deutung der Geschichte des Landes, seiner Bevölkerung und seiner Kultur
          Exkurs (1): Edward W. Said (1935-2003) und seine Vision heute
          Exkurs (2): Zum palästinensischen Volkstum
3. „Sumud“ – die gewaltfreie Standhaftigkeit der Bedrängten
4. Was die Stadt Bethlehem seit Anfang dieses Jahrhunderts erlitten hat
5. Die „Segregation Wall“: „A Wall defeating walls” – Aus Bethlehem wird ein Gefängnis
6. Claires Zeugnis
7. Eine olivenholzgeschnitzte Krippenszene erzählt von der standhaften Hoffnung der Bethlehemiter/innen
8. Das „'Israel', das sie meinen“ – Eine Anfrage an die „christlichen Zionisten“
9. Bethlehem heute, doppelt bedrängt – Tatsachen zur Okkupation
     Exkurs (3): Anmerkungen zum Mythos von der
          „Rückkehr des seit 2000 Jahren zerstreuten jüdischen Volkes in sein angestammtes Heimatland“
     Exkurs (4): Sumaya Farhat-Naser – vielfach geehrte palästinensische Friedensvermittlerin

10. Was nottut – und warum
          Stellungnahme von Bgm. Anton Salman (Bethlehem)

NACHWORT: Was bedeutet (hebr.) „Schalom“ und (arab.) „Salam“?

 

Schalom & As-salaamu ʿalaikum – Der Friede sei mit Euch!

    Bethlehem in großen Nöten – Ein Plädoyer für Gerechtigkeit

    2020/21 erstmals ohne Besucher aus aller Welt.
    „Weihnachtsstadt“, Kulturhauptstadt und
    Paris von Zentralpalästina“

    1. Zum Geleit: Das „Friedenslicht aus Bethlehem“ und wen es symbolisiert

    Im Jahr 1986 wurde in Österreich im Zusammenhang mit der ORF-Hilfsaktion „Licht ins Dunkel“ ein Weihnachtsbrauch ins Leben gerufen: das „Friedenslicht aus Bethlehem“, aus der alten biblischen Stadt Davids und seines messianischen Nachkommens, von dem Micha, ein Zeitgenosse Jesaias, 700 Jahre davor geweissagt hatte (5,1.4a):

    „Und du, Bethlehem-Ephrata, / zu klein, um unter den Tausendschaften von Juda zu sein, / aus dir wird mir [der] hervorgehen, / der Herrscher in Israel sein soll. / Und seine Ursprünge sind von der Vorzeit, / von den Tagen der Ewigkeit her. Und dieser wird der Friede ein.“

    Zu diesem Brauch wird jedes Jahr kurz vor Weihnachten in der Altstadt von Bethlehem – genauer: in der als Geburtsstätte Jesu angesehenen „Geburtsgrotte“ – das ORF-„Friedenslicht“ entzündet und in einer Speziallampe nach Österreich gebracht. Mit Hilfe vieler Organisationen wird es von da aus in der ganzen Welt verteilt und als leuchtendes Weihnachtssymbol am Heiligen Abend von Mensch zu Mensch weitergegeben.

    Ob den Menschen dabei auch das diesbezügliche Jesus-Wort aus dem Neuen Testament geläufig ist?
    Eines seiner sieben berühmten „Ich-Bin“-Worte lautet (Joh 8,12):

    Darauf redete Jesus wieder zu ihnen und sagte:
    „ICH BIN DAS LICHT DER WELT. Der, der mir folgt, wird nicht in der Dunkelheit wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben.“

    Von seinen Nachfolgern wurde er als der Kommende  verstanden, der in seiner Person und in seinem Weisungswort  die vielfältigen Weissagungen der alten Propheten von dem „wahren Licht“ des verheißenen Messias erfüllt hat, das wie eine „Leuchte“ unseren Lebensweg erhellen kann. So steht es in den Psalmen geschrieben:

    „Dein [Gottes] Wort ist eine Leuchte für meinen Fuß und ein Licht für meinen Pfad.“ (119,105).

    Geschichtlich seit langem vorgezeichnet war dies in dem Bericht von der Erlösung des Zwölfstämme-Volkes aus der Hand seines Unterdrückers (Pharao), als ihm der RETTERGOTT nachts – einer Feuersäule gleich – den Weg aus der Bedrängnis in die Freiheit erleuchtet hatte (Exodus 13,17-22).

    2. Narrative im Widerstreit –
    Die Deutung der Geschichte des Landes, seiner Bevölkerung und seiner Kultur

    Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass sich in den letzten 100 Jahren im sogenannten „Heiligen Land“ gleichsam die Rollen vertauscht haben. Jene, die sich wähnen, die heutigen Nachkommen und „Erben“ der Verheißungen des ehemaligen Zwölfstämme-Volkes zu sein und sich folglich als die „Alleinerben“ und „Herren“ des Landes gebärden (es aber nachweislich nicht sind*), unterdrücken die wehrlosen, alteingesessenen Völker des Landes systematisch und enteignen und vertreiben sie aus ihren Besitzungen. Die Ironie ist eine doppelte, denn gleichzeitig sind diese Landräuber die geistig-religiösen Nachkommen derer, die seit jeher den Anspruch dessen vehement abgewiesen haben, der als verheißener Sohn Davids  für Abermillionen Menschen aller Welt und aller Zeiten tatsächlich zu einem „Licht für die Völker“ geworden ist.

    * Vgl.: „Der Anspruch des Neozionismus auf Alleinbesitz Palästinas und seine Rechtfertigung auf dem Prüfstand der Hebräischen Bibel.“  Eine bibelexegetische Studie mit geopolitischer Tragweite. Verfügbar als PDF, auch auf Englisch.

    Nichtsdestoweniger ist und bleibt Bethlehem (hebr. Bet Leḥem, „Haus des Brotes“) aufgrund der biblischen Verheißungen und Erfüllungen unauslöschlich als christlich-palästinensische Stadt weltbekannt. Allen einengenden, verdrängenden und zerstörerischen Bemühungen der israelischen Kolonisten zum Trotz konnte Edward Said**, der aus Palästina stammende US-amerikanische Kulturwissenschaftler und Literaturkritiker, betreffend sein Volk zuversichtlich feststellen:
    „Uns [das palästinensische Volk] gibt es immer noch!“

    ** EXKURS (1): Edward W. Said (1935-2003) und seine Vision heute:

    1935 in Jerusalem geboren, war der jugendliche Said einer der über 50 Prozent christlichen Palästinenser in Westjerusalem, die 1947/48 vertrieben wurden und deren Familien ihre Häuser an die Israelis verloren, als die jüdische Untergrundmiliz Hagana im Februar 1948 den arabischen Stadtteil Westjerusalems eroberte. Sein bahnbrechendes kulturwissenschaftliches Buch „Orientalismus“ (1978), das zu den einflussreichsten und meist rezipierten Sachbüchern der neueren Wissenschaftsgeschichte zählt, befasst sich mit den Sichtweisen der kolonialen Gesellschaften und ihrer Wissenschaften auf den Orient.

    Er entwickelte eine politische Position zum palästinisch-israelischen Konflikt, die als Bi-Nationalismus auch von einer Minderheit jüdischer Intellektueller wie z. B. Martin Buber vertreten wurde und heute als „Ein-Staaten-Lösung“ bekannt ist. Darin sprach er sich für den „Gedanken der Koexistenz zwischen israelischen Juden und palästinensischen Arabern aus“. Nach seinem Rücktritt von seiner mehr als zehnjährigen Mitgliedschaft im Palästinensischen Nationalrat (PNC) 1991 wurde er zum prononciertesten Kritiker Yasser Arafats.

    Said galt in den USA als wichtigster Fürsprecher der Rechte des palästinensischen Volkes. Damit wurde er auch zum Ziel feindseliger Aktionen. Er und seine Familie erhielten „unzählige Todesdrohungen“, wie er schrieb, und im Jahr 1985 wurde sein Büro als Professor an der Columbia University in Brand gesetzt. Zudem war er beständig Attacken und Verleumdungen von israelfreundlichen Medien wie dem Wall Street Journal ausgesetzt. Die Überzeugungskraft und Integrität Saids wurde durch seine vollständige Ablehnung von Terror und Gewalt wie auch des Irakkriegs von 2003 gestärkt. Neben anderen Ehrungen wurde Edward Said für seine Verdienste um die israelisch-palästinensische Aussöhnung 2002 gemeinsam mit Daniel Barenboim mit dem Prinz-von-Asturien-Preis ausgezeichnet.

    Warum Edward Said für einen bi-nationalen Staat eintrat
    Einen Einblick über die Gründe seines Eintretens für einen bi-nationalen Staat zweier gleichberechtigter Völker gab Edward Said in einem Interview am 8. Februar 1999, noch vor der am 28. September 2000 ausgebrochenen Zweiten („Al-Aqsa-") Intifada. Saids Hauptargument für die Unausweichlichkeit einer Ein-Staaten-Lösung war die Verwobenheit der israelischen Juden und der Palästinenser miteinander, die, so war er überzeugt, „nicht dadurch revidiert werden kann, dass man die Menschen hinter separate Grenzen zurückzieht und in getrennte Staaten einteilt. Die wechselweise Verquickung beider Seiten, die weitgehend auf das aggressive Vordringen der Israelis in das palästinensische Territorium und ihre Invasion des palästinensischen Raums zurückgeht, scheint mir darauf hinzudeuten, dass ein Modus Vivendi gefunden werden muss, der ein friedliches Zusammenleben beider Völker ermöglicht. Und das wird nicht auf dem Weg der Trennung gehen.“ („Kultur und Widerstand. David Barsamian sprach mit Edward W. Said über den Nahen Osten“, 2006, S. 14-19).
    Damals war jedoch noch nicht absehbar gewesen, dass der Besatzerstaat wenige Jahre später tatsächlich eine Trennung vollziehen würde: durch mittlerweile 760 Kilometer lange Sperranlagen, die nun einen Großteil des Westjordanlandes umschließen.
    Welche Chancen bestehen also noch für einen Frieden in Nahost zwischen dem Jordanfluss und dem Mittelmeer, der für Friedenswillige beider Völker annehmbar ist? Immerhin handelt es sich neben den sieben Millionen jüdischen Bürgern und Bürgerinnen um sieben Millionen meist arabisch sprechende Nichtjuden in dem gesamten Territorium.

    Die Wiederbelebung der Einstaaten-Lösung
    In den letzten Jahren haben viele Aktivisten und Gruppen, Palästinenser und Israelis, erneut die Wiederbelebung der Ein-Staat-Idee initiiert und schlagen unterschiedliche Modelle eines solchen Staates wie einen bi-nationalen Staat vor, aber alle mit dem gemeinsamen Ziel der Errichtung eines einzigen demokratischen Staates im gesamten historischen Palästina, als Alternative zum kolonialen Apartheidregime, das Israel über das Land vom Mittelmeer bis zum Jordan verhängt hat.
    Die dazu initiierte Kampagne One Democratic State Campaign (ODSC) wurde 2018 in Haifa von Palästinensern aller größeren Gemeinden Palästinas zusammen mit ihren kritischen israelisch-jüdischen Partnern gegründet. Das von ihnen erarbeitete Manifest, der Aufruf zur Gründung eines einzigen, gemeinsamen demokratischen Staates, wurde am 15. November 2020 veröffentlicht. Es umfasst eine Präambel und ein politisches 10-Punkte-Programm. Punkt 3 des Programms, über „Individuellen Rechte“, lautet:

    „Kein Gesetz, keine Institution oder Praxis des Staates darf seine Bürger aufgrund ihrer ethnischen Identität, ihrer nationalen oder kulturellen Zugehörigkeit oder aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Sprache, ihrer Religion, ihrer politischen Meinung, ihres Eigentums oder ihrer sexuellen Orientierung diskriminieren. Der Staat wird allen seinen Bürgern das Recht auf Freizügigkeit und das Recht, sich überall im Lande aufzuhalten, gewähren. Der Staat wird allen Bürgern gleiche Rechte in allen Ebenen und Institutionen garantieren und die Gedanken- und Meinungsfreiheit gewährleisten. Neben der religiösen Ehe wird der Staat die Zivilehe ermöglichen.“

    Einige Monate davor, im Juli 2020, hatte der angesehene jüdisch-amerikanische Kolumnist, Journalist und politische Kommentator Peter Beinart in der New York Times aufhorchen lassen, als er die Zweistaaten-Lösung verwarf und sich für einen einzigen bi-nationalen Staat (One-state solution) mit gleichen Rechten für Juden und Palästinenser aussprach ("Opinion | I No Longer Believe in a Jewish State"). In einem längeren Essay in Jewish Currents ("Yavne: A Jewish Case for Equality in Israel-Palestine") legte er seine Ansichten detailliert dar. Er argumentierte, dass das Zweistaaten-Modell unhaltbar geworden sei und dass Israels permanente Kontrolle über Millionen von Palästinensern, denen es an Grundrechten fehle, zu Krieg und vielleicht sogar zu ethnischer Säuberung führen werde. Israel und Palästina, schrieb Beinart, sollten stattdessen auf die Schaffung eines vollständig demokratischen bi-nationalen Staates hinarbeiten, der sowohl die jüdische als auch die palästinensische Identität repräsentiert, ähnlich wie Belgien oder Nordirland nach dem Karfreitagsabkommen. Er argumentierte, dass ein Großteil der jüdischen Gemeinschaft die Welt durch eine veraltete „Holocaust-Linse“ sieht, in der ein souveräner jüdischer Staat erforderlich sei, um einen zweiten Holocaust zu verhindern, während dies jedoch sowohl Israelis als auch Palästinenser leiden lässt. Beinart ist Professor für Journalismus und Politikwissenschaft an der City University of New York. (Wikipedia) [Ende Exkurs]

    Stärker als je zuvor versuchen in den letzten 20 Jahren die Hardliner der israelischen Kolonisten, den Jahrtausende alten Namen „Palästina“ seiner Bewohner/innen aus dem öffentlichen Diskurs zu verdrängen, ihnen das Volk-Sein abzusprechen, sie als „Terroristen“ oder ungebildete Eseltreiber zu kompromittieren, ihre traditionelle Kultur zu verleugnen* und sie politisch und wirtschaftlich in den Homeland-ähnlichen Enklaven ihrer Städte zu ghettoisieren, nachdem das israelische Militärregime und deren „Zivilverwaltung“ ihre Bewegungsfreiheit durch infrastrukturelle Maßnahmen auf unerträgliche Weise nachhaltig eingeschränkt hatten.

    EXKURS (2): Zum palästinensischen Volkstum

    „So etwas wie ein palästinensisches Volk hat es nicht gegeben“, meinte im Juni 1969 die damalige israelische Ministerpräsidentin Golda Meïr im Interview mit der Sunday Times. Gleichwohl ist festzuhalten, dass die Existenz eines „Volkes“ weder von der Existenz einer Staatlichkeit (eine solche hatte es vor 1948 für das „jüdische Volk“ ebenso wenig gegeben) noch von einem vorhandenen Selbstverständnis  als „Volk“ oder einer bestimmten gemeinsamen Benennung (etwa „Palästinenser“) abhängig ist. Wenn „Volk“ vom griech. Begriff „ethnos“ her verstanden wird („Nation“, „Volk“), ohne den Mythos der „organischen Gemeinschaft“ zu bemühen, so kann „ethnos“ einfach als Gemeinschaft gleicher oder ähnlicher Sitten, Gebräuche und Gesetze  gedeutet werden, denn der Begriff ist von „ethos“ abgeleitet in der Bedeutung: „Gewohnheit“, „Sitte“, „Brauch“, „Gesetz“, „Ritus“. Das trifft für die seit Jahrhunderten ansässigen Bewohner/innen Palästinas durchaus zu, ungeachtet der Tatsache, dass die Anfänge einer spezifisch „palästinensischen Identität“ erst in der Spätphase des Osmanischen Reichs sowie am Beginn der britischen Herrschaft zu verorten sind (Rashid Khalidi). So beschloss Edward Said, die „etwas groteske Herausforderung“ anzunehmen, Golda Meïr zu widerlegen und „eine Geschichte von Verlust und Enteignung zu artikulieren, die Minute für Minute, Zentimeter für Zentimeter der Verleugnung entrissen werden musste“ („The Arab Portrayed“, 1970).

    Auch wenn das „palästinensische Volk“ ethnisch und religiös heterogen ist,  sodass man auch – in der Mehrzahl – von den „palästinensischen Völkern“ oder „indigenen Völkern Palästinas“ sprechen kann, wenn man an Muslime und christliche Denominationen, an Drusen, Beduinen, Tscherkessen und Aramäer denkt, bilden sie eine alte Kulturgemeinschaft in der Region mit vielen kennzeichnenden Traditionen, die gegenüber anderen arabischen Völkern und Stämmen in weiter entfernten Gebieten unterschiedlich sind. Beispiele sind die palästinensische Küche, die Musik, sogar eine eigentümliche palästinensisch-arabische Sprachvariante und – sehr auffallend – die kunstvollen einheimischen Trachten. Ausländische Reisende, die Palästina im 19. und frühen 20. Jahrhundert besuchten, kommentierten oft die reiche Vielfalt der getragenen Kostüme, insbesondere der Dorffrauen. Experten auf diesem Gebiet konnten die Ursprünge von palästinensischen Trachten bis in die Antike zurückverfolgen. Der Direktor des Oriental Institute Museum  stellte fest, dass die palästinensische Kleidung vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg „Spuren ähnlicher Kleidungsstile, die vor über 3.000 Jahren in der Kunst dargestellt wurden, aufweist.“  Die Kleidung der Töchter Zions, die in Jesaja 3,22-24 erwähnt wird, mit „wechselnden Kleidern“, „Mänteln“, „Schärpen“, „Hauben“, „Schleiern“ und „Gürteln“, legt nahe, dass die weibliche Stadtmode zu Jesajas Zeiten der modernen palästinensischen Landtracht ähnlich gewesen sein könnte. Alles, was vor 1918 entstand, war einheimisch-palästinensisches Design. Die Spezifität der lokalen Dorfmuster war so ausgeprägt, dass „das Dorf einer palästinensischen Frau aus der Stickerei auf ihrem Kleid abgeleitet werden konnte.“

    Bethlehem galt als „das Paris von Zentralpalästina“  und war für seine feinen Liegesticharbeiten bekannt, schrieb Widad Kawar, eine international renommierte Sammlerin von jordanischem und palästinensischem ethnischen und kulturellen Kunsthandwerk, die 1931 in einer christlicher Familie in Tulkarm geboren ist, in: „Threads of Identity: Preserving Palestinian Costume and Heritage“ (2011).

    Das bekannteste Kleidungsstück ist die traditionell von palästinensischen Bauern getragene Kuffiyah, ein schwarz-weißes Tuch mit Fischnetzmuster, das von palästinensischen Männern jeden Ranges getragen wurde (manchmal auch mit Varianten des Musters und in Rot statt Schwarz), ehe es in den 1930er Jahren zum allgemeinen Symbol des palästinensischen Widerstandes gegen die kolonialistische Landnahme wurde und durch das internationale Auftreten des Politikers Jassir Arafat weltweite Bekanntheit erlangte. [Ende Exkurs]

    In den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Gemeinsamkeiten der Bewohner des Landes noch über Kultur und Sprache bestimmt. Das mag insbesondere der überdurchschnittlich starken Präsenz christlicher Araber in allen Unabhängigkeitsbewegungen der Region geschuldet sein, die mit dem Konzept eines palästinensischen Nationalstaates die gesellschaftliche Akzeptanz und Gleichstellung für alle anstrebten, die ihnen traditionell aufgrund ihres Dhimma-Status unter der Osmanischen Herrschaft verwehrt war.

    Seit jeher sind christliche Araber im prästaatlichen Israel bzw. in Palästina eine der am besten ausgebildeten Gruppen; sie erreichen heute mehr Bachelor- und akademische Abschlüsse als der Durchschnitt der israelischen Bevölkerung. Die Bethlehem-Universität  war die erste Universität, die im Westjordanland (1973) gegründet wurde; sie kann ihre Wurzeln bis 1893 zurückverfolgen. Sie ist eine christliche, koedukative Hochschule und steht Student/innen aller Glaubensrichtungen offen. 2007 wurde von der Palästinensischen Administration (PA) eine zweite Universität in Bethlehem gegründet. Das Dar al-Kalima University College of Arts & Culture in Bethlehem kommt hinzu; darin kann man schon einfache Berufsabschlüsse vom „Diploma“ bis zum akkreditierten Bachelor verschiedenster Qualifikationen erlangen. Diese Bildungseinrichtung wird bereits für diverse Fächer als Kunsthochschule geführt. Die Anträge zur Erlangung eines universitären Status mit Masterabschlüssen usw. laufen. Mittlerweile gibt es über 30 universitäre Fakultäten im Westjordanland und vier Universitäten im Gazastreifen, zuzüglich Außenstellen der Fernuniversität Al-Quds Open.

    Den hohen kulturellen Status des palästinensischen Volkes rühmte auch der prominente Wiener jüdische Maler Arik Brauer (1929-2021). Im Ö1-Radiogespräch mit Renata Schmidtkunz im Februar 2012 sagte er wörtlich: „Die Palästinenser sind mit Abstand die meistentwickelte arabische Nation in jeder Hinsicht, auch die Frauen vor allem. [...] Alles, was man Gutes über Juden sagen kann oder überhaupt für Juden charakteristisch ist, Eigensinn – steht ja auch in der Bibel: am qasheh oreph [Anm. FW: „halsstarriges Volk “, Exodus 32,9] – eigensinnig, hartnäckig im Durchsetzen , intelligent, das trifft auf die Araber in hohem Maß genauso zu. Und das ist natürlich eines der Probleme, dass wir einander so ähnlich sind.“ Bei der Gelegenheit erwähnte Brauer, der teils in Israel und Wien gewohnt hat, dass die israelische Siedlungspolitik „überhaupt keine Zustimmung“ finde.

    Lesetipp: „25 Jahre Dar-al-Kalima“, Israel & Palästina II-III/2020, AphorismA Verlag. € 15,00.

    3. „Sumud“ – die gewaltfreie Standhaftigkeit der Bedrängten

    In Bethlehem zähle ich Familien zu meinen Freunden, die in bewundernswerter Standhaftigkeit (arab.: sumud *) allen Angriffen und Widerständen gewaltfrei trotzen. Zwei ihrer Initiativen stelle ich hiermit vor: das private Friedens- und Sozialprojekt „Zelt der Nationen“ der Familie Jihan & Daoud Nassar auf 'Dahers Weinberg' und den christlichen Geschenkladen mit den berühmten Schnitzereien aus Olivenholz aus Bethlehem der Familie Anastas – Claire & Johny mit Sohn Daniel.

    *“'Sumud' is 'supporting people to stay on the land'.”

    Nachdem ich kurz vor der Adventzeit 2019 vor Ort war, ist im Dezember 2020 / Jänner 2021 zu den bisherigen Existenz-bedrohenden Bedrängnissen Bethlehems – und ganz Palästinas (der Westbank), wie sie 1967 durch die Okkupation begannen und nach 2000 eskalierten (s. u.) – noch eine weitere Bedrohung dazugekommen: die rigorosen Einschränkungen infolge der Pandemie. Doch zunächst ein Rückblick auf das, was 2000 und in der Folge dort geschehen war.

    4. Was die Stadt Bethlehem seit Anfang dieses Jahrhunderts erlitten hat

    Damals unternahm die israelische Armee (IDF) unter hohem Gewalteinsatz – häufig auch willkürlich und brutal gegen die palästinensische Bevölkerung – eine Invasion in Bethlehem (Operation „Defensive Shield“ 2002) und richtete in der Altstadt und bei der Belagerung zweier Kirchen große Zerstörungen an, als israelische Panzer durch die engen Gassen fuhren und parkende Autos überrollten. Dabei war die Stadt nicht allzu lange davor für 'Bethlehem 2000' hübsch hergerichtet worden, um die Jahrtausendwende festlich an dem Ort zu begehen, wo der Anlass geschah, von dem aus wir unsere Zeitrechnung herleiten. Viele Staaten der Welt hatten dafür Gelder bewilligt, und die Stadt war 2000 so ausgeschmückt wie schon lange nicht. Die Stadt Köln als Partnerstadt Bethlehems in Deutschland, hatte den Kölner Platz (unterhalb der Evangelischen Weihnachtskirche) mit einem Brunnen, Blumenkübel und Bänken hergerichtet. Nachdem die Panzer bei der Invasion darübergefahren waren oder die Einrichtungen zerschossen hatten, war alles zerstört. Bis heute fehlen der Stadt die Mittel, um Straßen und Plätze wieder herzurichten, berichtete Altbischof Hans-Jürgen Abromeit (NRW) bei einem Vortrag am 5. November 2019 im Bonhoeffer-Zentrum in Bielefeld. Israelische Soldaten hatten Gebäude und Inneneinrichtungen von im Neubau befindlichen Einrichtungen mutwillig beschädigt wie dem Internationalen Begegnungszentrum bzw. Kultur- und Konferenzzentrum 'Dar Annadwa' und 'Abrahams Herberge', einem Gästehaus für Pilger und Touristen im benachbarten Beit Jala (Bait Dschala). So schossen sie in jede der eben gelieferten Porzellantoiletten hinein, so dass alle unbenutzbar wurden. Insgesamt betrugen die  Zerstörungen mehrere hunderttausend Euro.

    Dabei war es nicht das erste Mal gewesen,  dass die IDF in Bethlehem eingerückt waren und Chaos, Tod und Zerstörung angerichtet hatten. Die Friedensaktivistin, Reiseführerin und Buchautorin Faten Mukarker war schon damals Augenzeugin in Beit Jala im Gouvernement Bethlehem gewesen (wo allein die Palästinensische Autonomiebehörde zuständig ist) und hatte den zehn Tage dauernden Terror der Israelis in ihren Aufzeichnungen festgehalten (19.-29. Oktober 2001). Ihr Buch „Leben zwischen Grenzen. Eine christliche Palästinenserin berichtet“ (1998) ist in zahlreichen Auflagen erschienen und im Internet noch erhältlich.

    5. Die „Segregation Wall“: A Wall defeating walls Aus Bethlehem wird ein Gefängnis

    Die weltbekannte palästinensische Künstlerin Samia Halaby aus New York war 2003 nach Bethlehem gekommen, um einen Kurs über Kreativität zu halten, und beschrieb die Situation, als die Stadt vom IDF-Militär belagert war:

    „Der öffentliche Rückzug Israels im Juli 2003 war nichts anderes als medienbezogene Fehlinformationen. Die Belagerung wurde noch verschärft und brachte das Leben in BeitLahem [Bethlehem] fast zum Stillstand. Die Israelis stahlen auch das Land rund um die Stadt und bauten eine elektrifizierte Mauer, um die Belagerung dauerhaft zu machen. Die jüdische] Siedlung Har Moma ]östlich von 'Checkpoint 300'] wurde auf dem gestohlenen Land des Berges Abu Ghuneim gebaut. Beachten Sie den imperialistischen Charakter seiner befestigten Architektur.“ (Zitat von Dr. Mitri Raheb in: „25 Jahre Dar-al-Kalima, S. 120.

    Während dieser Zeit hat die israelische Besatzungsmacht das bis dahin gut besuchte zweistöckige Anastas Guesthouse und dessen Holy Star Gifts Souvenir-Shop im Erdgeschoß an der „Hebronstraße“ (der ehemaligen Hauptstraße von Jerusalem nach Hebron) „eingemauert“: An drei Seiten rundum von einer acht Meter hohen Mauer umgeben (Segregation Wall), befand sich dadurch der Standort der Familie Anastas plötzlich im Abseits und ist nicht mehr von Ost-Jerusalem aus, sondern nur noch über eine Bethlehemer Nebenstraße erreichbar (Foto von der Straßeneinmündung), die unmittelbar hinter ihrem Gästehaus endet – als Sackgasse. Die Jerusalem-Hebron Road hingegen wurde von den Besatzern zur rein jüdischen Straße umfunktioniert und zu diesem Zweck mit beiderseitigen Begleit- und Trennmauern versehen – zur Abschirmung gegenüber den alteingesessenen Anrainern. Sie dient seither als befestigte Zufahrt (im Vergleich zu 1934) für Juden aus Jerusalem zu dem – der Legende nach dort befindlichen – Grab der Matriarchin Rahel („Rachel’s Tomb“), die von religiösen Juden als „Mutter des Volkes“ inbrünstig verehrt wird. Dieser Wallfahrtsort ist der drittheiligste Ort des Judentums und gilt als einer der Ecksteine jüdisch-israelischer Identität.

    Der Sperrmauerbau, der seitdem das Leben in und um Bethlehem bestimmt, hatte indes zur Folge, dass Claires Familie vom benachbarten Haus ihres Bruders und seiner Familie (siehe Foto im Bauzustand) durch die beiden Begleitmauern der dazwischenliegenden Zufahrtsstraße zu „Rahels Grab“ doppelt getrennt wurde, das auch noch durch einen militärischen Wachturm (Israeli Military Base) „gesichert“ wurde. Um zueinander zu kommen (und die Kinder zur Schule), sind sie seither zu einem großen Umweg gezwungen, siehe die Karte mit eingetragenem Mauerverlauf (dicke schwarze Linie) und der Situierung des Anastas-Gästehauses sowie der Military Base und Rachel’s Tomb.

    Mittels all dieser Barrieren, samt dem berüchtigten „Checkpoint 300“, der Bethlehem von Ost-Jerusalem trennt, wurde den Bethlehemiter/innen der – seit 2000 Jahren Christentum – freie Zugang ins angrenzende arabische Ost-Jerusalem (wo zehntausende palästinensische Christen leben) und seiner Altstadt unmöglich gemacht.* So wurden nicht nur die bestehenden sozialen Beziehungen gewaltsam unterbunden, der Würgegriff dieser Maßnahmen hat auch zum Niedergang von Fremdenverkehr und Pilgerstrom als wichtigster Einnahmequelle der Stadt geführt und die Lebensgrundlage Vieler zerstört, auch jener der Familie Anastas: Blicken sie im Obergeschoß ihres Hauses aus ihren Fenstern, haben sie nichts als die Betonmauer vor Augen; stiegen sie – vom israelischen Militär untersagt – auf ihr eigenes Flachdach, würde von Scharfschützen der Military Base auf sie geschossen werden.

    * Der Journalist und Reiseleiter Johannes Zang schreibt, dass der Anteil der Christen an der Bevölkerung vor 1948 fast 10 % betrug. Unter den weit über 700.000 Vertriebenen im Zuge der Gründung des „jüdischen Staates“ befanden sich zwei Drittel der palästinensischen Christenheit. Der Staat beschlagnahmte kirchliches Eigentum, konfiszierte Besitzungen wie die der Evangelischen Karmelmission am Berg Karmel, entweihte heilige Stätten und riss Kirchen wie die von Al-Birwa unweit von Akkon ab. Christliche Gemeinden in Städten wurden ausgelöscht, darunter die christliche Präsenz in Westjerusalem (zum Großteil schon im Februar 1948 durch die zionistische Untergrundarmee Hagana).
    Mit dem 6-Tage-Krieg, als das Westjordanland unter israelische Militärherrschaft geriet, kehrten erneut Christen ihrer Heimat den Rücken, so auch während der Ersten und Zweiten Intifada. Von 2000 bis 2002 verließen 60-70 Familien Bethlehem, schätzungsweise 300 bis 350 Menschen.
    (Nach Johannes Zang: „Erlebnisse im Heiligen Land. 77 Geschichten aus Israel und Palästina“, S. 138-139, ProMedia 2021).

    Ganz in der Nähe, auf der gegenüber liegenden Seite der Military Base, steht das 2017 eröffnete Walled Off Hotel des weltbekannten anonymen Streetart-Künstlers Banksy, der durch seine politischen und sozialkritischen Illustrationen an der acht Meter hohen Beton-Sperrmauer auf die militärische Unterdrückung und Unfreiheit des palästinensischen Volkes aufmerksam gemacht und (2018) bildhaft die Öffnung der Trennmauer suggeriert hat. (Das hat ihm schärfste Kritik und den stereotypischen „Antisemitismus“-Vorwurf seitens der Israelis eingebracht.) Wenn aber dem Walled Off Hotel  wegen der Sperrmauer an einer Fensterseite die „schlechteste Aussicht von allen Hotels der Welt“ nachgesagt wird, dann wird dieses zweifelhafte Prädikat von der Aussicht des Anastas Walled-Inn Hotels auf die Betonmauer an drei  Seiten überboten.

    Auch viele Menschen der Bethlehemer Zivilgesellschaft haben geradezu herzzerreißende Lebensberichte auf Posters an der Segregation Wall angebracht. Sie werden vom „Sumud Story House des AEI-Centers (member of pax christi international) unter dem Motto gesammelt: Die Mauer kann unsere Geschichten nicht aufhalten.
    Eine der berührendsten Stories daraus, Love, lautet:

    "Mein Sohn hatte sich in ein Mädchen aus Jerusalem verliebt. Es war schwierig für ihn, weil er eine Genehmigung brauchte, aber sie konnte ihn hier in Bethlehem besuchen kommen. Er konnte keine Bewilligung bekommen, sie zu besuchen, selbst als sie krank wurde. Nach vier Jahren starb sie. Sie hat in ihrem Testament festgelegt, dass mein Sohn ihren Sarg bei der Beerdigung tragen soll. Er versuchte, eine Genehmigung dafür zu bekommen, aber diese wurde ihm verweigert. Er beschloss, ohne Erlaubnis nach Jerusalem zu fahren. Die israelischen Soldaten erwischten ihn, schlugen ihn schwer und steckten ihn für dreißig Tage ins Gefängnis. Er verpasste die Beerdigung. Er erlitt einen Nervenzusammenbruch und war zwei Jahre lang krank." – Ellen, aus Beit Jala [übersetzt]

    Diese und viele andere Stories befinden sich entlang der Mauer am Ende der einzigen Zufahrtsstraße zum Anastas Guesthouse  (am Foto halb verdeckt im Hintergrund zu sehen). Sie weist als Straßenname – nicht ohne gewisse Ironie – „Wall Street“ auf (siehe Vergrößerung). Auf diesem Foto ist auch eine Satire von Lush Sux in Anspielung auf Rick & Morty zu sehen: Opa-Rick hat sich in eine bedrohliche, furchterregende „illegale Grenzmauer verwandelt“.
    Links neben dem „Love“-Poster haben Menschen aus dem niederländischen Gorinchem mit einer aufwändigen Darstellung ihres Dorfes und seiner Windmühle, übersät mit Dutzenden Unterschriften, ihre Solidarität bekundet:

    „The people of Gorinchem greet you.
    They say NO to the Separation Wall.
    An they support the full rights of the Palestinian people.”

    So hat die Bethlehemer „Wall Street“, die Straße der Apartheid-Trennmauer, viel zu erzählen – ergreifende Zeugnisse wie SILENT TRANSFER, THE WOUNDED und TRAUMAS und Malereien mit zum Himmel gerichteten Anliegen wie Joy, Peace, Hope, Love, Justice, Patience, Goodness, Kindness, Selfcontrol, Gentleness, Faithfulness
    Vor drei Jahren (2018) wurde auch noch die Homepage der Familie Anastas gehackt, über die man im Souvenirshop online bestellen konnte; nun ist sie nicht mehr verfügbar. Buchungen sind nur über ihre Facebook-Seite möglich. Es mutet an wie die Rache der unersättlichen zionistischen Kolonisten dafür, dass die Familie Anastas, integriert in der arabisch-christlichen Community von Bethlehem, nicht Haus und Grundbesitz „für das jüdische Volk“ aufgegeben hat und nicht ausgewandert ist. Wohin denn auch? We are here to stay.

    6. Claires Zeugnis

    So bitte ich alle Menschen mit Gerechtigkeitssinn und Empathie, Claires eindrückliche Berichte zu lesen (übersetzt) und bekannt zu machen:

    1. Claire Anastas – eine Christin aus Bethlehem

    Inhaltsangabe: Dieser Bericht enthält nicht nur eine vielsagende Foto-Serie des Gebäude-Umfeldes, sondern auch eine Landkarte des Großraumes von Jerusalem mit der Darstellung der (schraffierten) Fläche zwischen der „Grünen Linie“ (der völkerrechtlich anerkannten Waffenstillstandslinie von 1949) und der bis weit östlich verlaufenden israelischen Sperrmauer, tief eingeschnitten in das Westjordanland. So entstand eine riesige Landfläche, die dem Staat Palästina und seiner Bevölkerung gewaltsam, völkerrechtswidrig und ungestraft entrissen und enteignet worden ist – auch entgegen den internationalen Vereinbarungen des Oslo-Vertrags der 1990er Jahre. Ein Ausschnitt dieser landräuberischen Einverleibung ist auf einer UN OCHA-OPT-Karte dargestellt: Der berüchtigte Checkpoint 300  („Checkpoint Gilo“ in Bethlehem ) liegt 2 Kilometer von der Grünen Linie entfernt auf palästinensischem Land, unweit des Anastas Familienbesitzes.

    2. Claire Anastas – 'Wir sind eingesperrt, lebendig begraben in einer Gruft'

    Obwohl die Städte Palästinas gemäß Oslo-Vertrag allein von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) verwaltet werden (Zone A), marschierte das israelische Militär Ende März 2002 dort ein. Am 2. April folgte der brutale Überfall auf Bethlehem.

    In diesem zweiten, aufwühlenden Bericht über diese Zeit sind die Ereignisse, der Terror und die Zerstörungen durch die israelische Armee (IDF) aus der Sicht der Familie Anastas dokumentiert. Die Invasion war von der israelischen Politik betitelt: Operation „Defensive Shield“, wörtlich „'Verteidigungs'-Schild“, aber offiziell als Operation „Schutzschild“  bekannt gemacht.

    Künstlerisch begabte palästinensischen Holzschnitzer haben eine ganz besondere Weihnachtskrippe aus Olivenholz hergestellt und mit der heutigen beengten Lage Bethlehems in Verbindung gebracht, nachdem das israelische Militär diese christliche Stadt mit einer 8 Meter hohen Mauer umgeben und abgeriegelt hat. In diesem Kontext haben die Künstler den Evangeliumsbericht nach Matthäus (Kap. 2) anschaulich gemacht:
    Stellen wir uns Folgendes vor: Die Weisen waren aus dem Morgenland gekommen, um dem neugeborenen Jesus-Kind, dem geweissagten messianischen Nachkommen des Königshauses Davids, zu huldigen und ihm die gebührende Ehre zu erweisen. Aber sie wären vor einer hohen, unüberwindlichen Mauer vor Bethlehem gestanden, die sie gehindert hätte, zur Krippe hinzuzutreten.

    Dazu folgende >>> Serie von vier Bildern (PDF):

      1. Bild 1: Die weitgereisten Männer kommen mit ihrem Lasttier und stehen vor einer hohen, dunklen Sperrmauer mit scharfen Spitzen und einem bedrohlichen Wachturm. Die angelehnte Leiter ist viel zu kurz, um die trennende Mauer zu überwinden.
      2. Bild 2: Von oben gesehen ist das helle Dach des Hauses hinter der Mauer zu erkennen, in dem der Heiland der Welt geboren ist, und darüber ein anbetender Engel. Aber für die Ankommenden draußen vor der Sparrmauer bleibt dies ihren Augen verborgen.
      3. Bild 3: Wenn aber die trennende Mauer mit ihrem Wachturm abgebrochen und entfernt wird, dann ist der Weg frei, um zum Ziel ihrer Reise zu gelangen – zu dem, den die Weitgereisten lange erwartet und gesucht hatten.
      4. Bild 4: So können die Weisen dem Stern von Bethlehem bis zur Krippe folgen und ungehindert herzutreten, um dem verheißenen Friedefürsten ihre Gaben dazubringen, wie es einem König damals gebührte: Gold, Weihrauch und Myrrhe.

     

    8. Das „'Israel', das sie meinen“ – Eine Anfrage an die „christlichen Zionisten“

    Zionisten und ihre Fundraising-Propagandapostillen trommeln unentwegt, dass Christen „an der Seite Israel“  zu stehen hätten – aber wovon sprechen sie und was meinen sie, wenn sie „Israel“ sagen, und was meinen sie nicht?

    Wenn wir schon neutestamentlich-biblisch argumentieren, dann bitte hermeneutisch korrekt:

    1. Mit „Israel“ meinen sie nicht diejenigen, die sich von Dem, der bereits gekommen ist, zu Ihm rufen ließen wie die galiläischen Fischerleute Andreas und Petrus im Neuen Testament oder Natanael, dem attestiert worden ist, ein „wahrhaftiger Israelit“ zu sein, weil er Ihn als den „König Israels“ (Davids verheißenen messianischen Nachkommen) anerkannt und bezeugt hatte (Joh 1,35-51).
    2. Sie meinen mit „Israel“ auch nicht diejenigen, die in der Folge – aus welchen Völkern und zu welchen Zeiten auch immer – wie Schafe dem Guten Hirten nachgefolgt sind, der sein Leben für sie gegeben hat (Joh 10,13-15), damit sie Ihm gehörten und durch Ihn „das Leben in Fülle haben“ (Joh 10,10).
    3. Schon gar nicht sprechen sie von Demjenigen, der selbst der wahre „Israel“ als verheißener Sohn Jakobs ist, weil nur ER  als einzig Gerechter diesen Ehrennamen (Ischar-el  bzw. Jaschar-el  im Sinne von: „Gott ist gerecht“*) diesen Namen als Erbe verdient hat und damit zum ewigen und universellen Stammvater geworden ist (Jes 9,5f; 53,10-12).
      * Zur ursprünglichen Aussprache und Bedeutung des Namens „Israel“ siehe Exkurs: Zur Etymologie und ältesten Aussprache des Namens 'Yisrael' in: „Die Instrumentalisierung des messianischen Anspruchs durch den religiös-nationalistischen Zionismus“, Kap. 1.
    4. Folglich meinen sie auch nicht diejenigen, die nach dem wahren „Israel“ benannt sind, d. h. diejenigen, die infolge Seiner Auferstehung und Erhöhung Miterben Seines Namens geworden sind (Apg 3,14.25-26; Röm 8,17; Gal 3,29), aufgrund dessen es auch diese sind, die „die [wahre] Beschneidung“ repräsentieren (d. h. das wahre Volk „Israel“, Phil 3,3), eine „Beschneidung“, die nicht des Fleisches, sondern des Herzens und darum alleingültig ist (Röm 2,28-29; Kol 2,11).
    5. Die „christlichen Zionisten“ sprechen daher, wenn sie „Israel“ sagen, nicht von den Schafen,  die zu einer  gemeinsamen Herde gemacht worden sind, nachdem die Trennmauer zwischen dem einen „Schafstall“ (der Juden) und dem „Schafstall“ der anderen (der Völker) durch den Guten Hirten niedergerissen worden ist (Joh 10,13-16; 11,52; Eph 2,14-15; vgl. Hes 34,23-25).

    Nein, davon sprechen die Zionisten nicht, vielmehr meinen sie ein selbstgemachtes „Israel“, ein bibelfremdes, fleischliches Pseudo-„Israel“, ein politisch-militärisches Gewaltsystem, das sie der Welt als vermeintlich biblisches „Israel“ verkaufen. Dieses war plötzlich, im Jahr 1948, von erwiesenen Kriegsverbrechern aus der politischen Trickkiste gezaubert und unter genozidalen Umständen, ethnischen Säuberungen und zahllosen (inzwischen selbst durch jüdisch-israelische Historiker unwiderlegbar dokumentierten) Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgerufen worden.

    Nota bene: War die Staatsgründung 1948 ein biblisches Ereignis?

    2670 Jahre vor diesem Ereignis ist das historische Reich, das nach dem zwölfstämmigen Volk der Nachkommen Jakobs benannt war – ihres Stammvaters mit neuem Namen „Israel“ – durch innere und äußere Feinde schrecklich und endgültig gescheitert. Die inneren Feinde, die den unausweichlichen Untergang herbeigeführt hatten, waren jene Zustände, vor denen ihre Propheten jahrzehntelang gewarnt hatten: himmelschreiende soziale Missstände; ein völlig korruptes Justizsystem; die wachsende Schere zwischen Arm und Reich und zwischen hilflosen Ausgebeuteten und privilegierten Unterdrückern; der religiöse Missbrauch der herrschenden Priesterschicht, die ein torahwidriges Religionssystem zum eigenen Vorteil und Machterhalt betrieben hatte; blutige Palastrevolutionen unter feindseligen Intrigen und außenpolitischen Richtungskämpfen; kolonialistische Expansionskriege mit schrecklichen Kriegsverbrechen an Nachbarvölkern und nicht zuletzt das Verleumden und mundtot Machen prophetischer Warner und Kritiker, sodass schließlich eintrat, wovor gewarnt worden war: Die ihnen überlegenen äußeren Feinde gewannen die Oberhand und machten dem historischen Staat Israel ein Ende (722/21 BCE durch die Assyrer). Nie wieder hat es seither eine Neuauflage gegeben. Das wäre auch nicht möglich gewesen, weil die zwölf Stämme (bzw. zunächst die zehn im Norden Israels), für immer deportiert wurden, in der Völkerwelt untergegangen sind und die ihnen zugeteilten Stammesgebiete nicht mehr existierten. Anstelle der Israeliten hatten die Assyrer fünf andere Völker im ehemaligen Reichsgebiet von Israel-Samaria angesiedelt.

    Um das unwiderrufliche Ende des biblisch-historischen, ethnisch-politischen Staates Israel in alle Ewigkeit noch zu bekräftigen, weissagte schließlich der Prophet Hesekiel aus dem Priesterstamm Aarons im Exil, dass das wahre Erbteil ihres Urstammvaters Abram, dem der neue Name „Abraham“ gegeben worden war – in der Bedeutung „Vater vieler Völker“, nicht nur eines einzigen Volkes –, darin bestehen würde, dass in Zukunft alle Völker gleichberechtigt im Land bzw. auf der Erde leben sollten, ohne Vorrang eines gegenüber einem anderen. Und Sacharja weissagte, dass diese zukünftige Herrschaft „nicht auf Heeresmacht“ beruhen werde „und nicht durch Gewalt, sondern durch den Geist [Gottes] geschehen“ werde. Darum hat sich alles, was sich seither als politisch-militärischer Staat unter dem historischen Namen „Israel“ konstituiert hat oder nunmehr gar „historische und biblische“ Ansprüche für sich reklamiert, als monströse Falschetikettierung selbst entlarvt.

    So erweist sich dieses System (nicht die Menschen) in zweifacher Hinsicht als ein „Gegen-Israel“, und alle, die „an der Seite“ derer stehen, die diese exklusivistische Staatsideologie („Staat der Juden“: medniat HaYehudim) benutzen, um ein anderes Volk auszubeuten, zu unterdrücken, zu marginalisieren und zu vertreiben, befinden sich auf der falschen Seite Israels: Ein „Israel“, das physisch und ideell Trennmauern zwischen Menschen wieder aufrichtet,  ist ein falsches, friedensfeindliches „Israel“ und nicht das „Israel Gottes“ (Gal 6,15-16). Darum kann der Zionismus  keine „göttliche“ Bewegung sein (wie religiöse Neozionisten glaubhaft machen wollen) und >>> schon gar nicht auf einer „evangelikalen“ Lehre beruhen (vgl. >>> „Exkurs zur Hermeneutik der evangelikalen Zionisten“).

    Siehe auch Exkurs unterhalb: Anmerkungen zum Mythos von der
    „Rückkehr des seit 2000 Jahren zerstreuten jüdischen Volkes in sein angestammtes Heimatland“

    Christen sind berufen, zum „Schalom Gottes“ beizutragen, zu dem  Frieden, der alle Trennmauern und Abgrenzungen (Foto: israelischer „Apartheid-Zaun“ im besetzten Palästina) abbrechen und überflüssig machen kann (Eph 2,11-22).

    9. Bethlehem heute, doppelt bedrängt – Tatsachen zur Okkupation

    Im Dezember 2020 war es das erste Mal seit sechzehn Jahrhunderten, dass in Bethlehem Pilger und Touristen zur Weihnachtszeit (sowohl zum lateinischen Festtermin im Dezember als auch zum orthodoxen im Jänner) völlig ausgeblieben sind aus Gründen totaler Einschränkungen infolge der Covid-19-Pandemie – nach Jahrzehnten des Niedergangs des Fremdenverkehrs (der die traditionell wichtigste Einnahmequelle der Stadt ist) infolge politischer Repression. Dennoch waren 2019 immerhin noch eineinhalb Millionen Übernachtungsgäste in die Stadt gekommen, statt wie ehedem mehr als zwei Millionen.
    Bethlehem wurde für das Jahr 2020 als Kulturhauptstadt der arabischen Welt im Rahmen der UNESCO geehrt, nachdem die israelische Administration verboten hatte, Jerusalem als „Arabische Kulturhauptstadt“ zu ernennen, obwohl dessen arabischer Anteil der Bevölkerung bei 37 Prozent liegt.

    Die Eröffnung in Bethlehem sollte Anfang April stattfinden, musste aber wegen des Virus abgesagt werden. „Wir hoffen, wenigstens im März oder April nächsten Jahres eine Eröffnungsfeier machen zu können. Aber die Veranstaltungen danach werden anders sein als geplant, denn uns fehlt dafür das Geld“, sagte Anton Salman, der Bürgermeister von Bethlehem.
    Wenn der Christenheit und „allen Menschen guten Willens“ (Luk 2,14) das Wohlergehen der Völker im „Heiligen Land“ – ohne Ansehen der Person – am Herzen liegt, dann bedarf es nicht einfach des stimmungsvoll-romantischen Gedenkens an Bethlehem zur Weihnachtszeit. Die Pandemie als Anlass der temporären Einschränkung mag im kommenden Jahr vorübergehen . . . ,
    . . . aber die permanenten politischen und infrastrukturellen Einschränkungen und Schikanen werden von Jahr zu Jahr dramatischer und existenzbedrohender:

    1. Die Stadt ist von Dutzenden illegaler israelischer Siedlungen – auf Basis gewaltsamen Landraubs – und der israelischen Westbank-Sperre (zu 85 Prozent auf palästinensischem Territorium errichtet) umgeben, die sowohl die muslimischen als auch die christlichen Gemeinden von ihrem Landbesitz und ihren Lebensgrundlagen trennt und einen stetigen Exodus beider Gemeinschaften zur Folge hat. Sie ist heute von zwei Umgehungsstraßen allein für israelische Siedler umgeben, so dass die Einwohner zwischen siebenunddreißig (37) jüdischen Enklaven („Siedlungen“) eingezwängt sind, in denen ein Viertel aller Siedler im Westjordanland, etwa 170.000, leben; die Lücke zwischen den beiden Straßen wird durch die acht bis neun Meter hohe israelische Westbank-Sperre (de facto „Annexions-Mauern“) geschlossen, die Bethlehem von seiner „Schwesterstadt“ Jerusalem abschneidet. Bei dieser Entwicklung handelt es sich um eine seit Jahrzehnten forcierte, gezielte Geostrategie israelischer Militärdiktatur und der ihr untergeordneten Zivilverwaltung, um zwischen Jerusalem und Hebron einen zusammenhängenden, rein jüdischen („araberreinen“) Siedlungsblock (Gusch Etzion) zu schaffen, zu verdichten, bodenständige arabische Dörfer und Farmen einzuengen und durch permanente Schikanen, nächtliche Attacken und militärische Abrissbefehle zum Aufgeben und Absiedeln zu zwingen.
    2. Dieser Etzion-Block mit seiner Regionalverwaltung, bestehend aus Kibbuzim, Gemeinschaftssiedlungen und Außenposten, sowie der Stadtverwaltung Betar Illit – allesamt östlich der Grünen Linie und somit völkerrechtswidrig – umfasste laut Volkszählung des israelischen Zentralbüros für Statistik von 2014 fast 80.000 jüdische Einwohner. Davon zählt Betar Illit allein bereits über 50.000 Einwohner (hauptsächlich ultraorthodoxe Juden und Jüdinnen, in Israel Haredim genannt) und ist damit die zweitgrößte israelische „Siedlung“ bzw. Stadt im Westjordanland. (Als Betar Illit 2002 zur Stadtverwaltung erhoben wurde, hatte es noch 17.000 Einwohner.) Nach einem Bericht der israelischen Friedensorganisation Peace Now  (Schalom Achschaw) befinden sich 15,2 Prozent der Gründe, auf dem die Stadt errichtet wurde, in palästinensischem Privatbesitz. Diese Strategie, die vorsieht, diesen Block mit weiteren Siedlungen im judäischen Bergland unter kommunalen und regionalen Verwaltungen zu verbinden, bedeutet somit eine schleichende de facto-Annexion großer (entfremdeter) palästinensischer Landstriche durch den israelischen Staat und seine Militärregierung in den besetzten Gebieten.
    3. Christliche Familien, deren Ahnen seit hunderten und bis zu zweitausend Jahren in Bethlehem und Umland lebten (und womöglich von damaligen messianischen, d. h. an Jesus als Messias gläubig gewordenen Juden abstammten, wie genetische Untersuchungen nahelegten*) werden gezwungen, die Stadt zu verlassen, nachdem Land konfisziert und Häuser mit Bulldozern plattgemacht werden, um Tausende von neuen israelischen Häusern zu bauen. Landkonfiszierungen zugunsten weiterer israelischer Siedlungen haben auch den Bau eines neuen Krankenhauses für die Bewohner von Bethlehem verhindert, ebenso wie die Barriere, die Dutzende von palästinensischen Familien von ihrem Ackerland und christliche Gemeinden von ihren Gotteshäusern trennt.

    * EXKURS (3):

    Anmerkungen zum Mythos von der
    „Rückkehr des seit 2000 Jahren zerstreuten jüdischen Volkes in sein angestammtes Heimatland“

    Dass Teile der indigenen, arabisierten Bevölkerung Palästinas altjüdische Wurzeln haben, wussten schon die späteren Staatsgründer David Ben-Gurion und der Historiker Jizchak Ben-Zwi.
    Sie hatten dies in einem gemeinsamen Buch selber geltend gemacht, um in den USA für den Zionismus zu werben, und erwähnten mehrfach, dass die in Palästina ansässigen, arabisierten Bauern die Nachfahren der Bewohner des antiken Judäa seien, ließen dies aber später – aus durchsichtigen Gründen – unerwähnt.
    Quellennachweis: „Eretz Jisroel in fergangenheit un gegenwart“, New York 1918. Jizchak Ben Zwi, „Unsere Bevölkerung im Land“ (auf Hebräisch), Warschau, Exekutivkomitee der Jugendunion u. Jüdischer Nationalfonds, 1929.

    Dagegen legt die Herkunft moderner jüdischer („Alijah“-) Einwanderergruppen aus aller Welt – Ironie der Geschichte! – aufgrund von DNA-Genealogieforschungen nahe, dass ihre Vorfahren unterschiedlichste konvertierte Proselytenvölker waren: Aschkenasim als Nachfahren von asiatischen Turkvölkern wie Chasaren; Sephardim von verschiedenen nichtsemitischen Völkern wie den afrikanischen Berbern; Falaschen fast ausschließlich von Äthiopiern; jemenitische Juden (Temanim) fast ausschließlich von südarabischen Stämmen wie den antiken Himyaren (mit geringem Anteil von Saudischen Arabern und Beduinen sowie Ostafrikanern) und die selbst ernannten „B'nei Menashe-Juden" von den Mizo-People aus dem multiethnischen und pluralistischen Staat Mizoram im Nordosten von Indien.

    Diese letzteren weisen überhaupt keine nachweisbaren genetischen Verbindung zu den Israeliten auf. Die vorkolonialistischen Mizos waren Animisten, aber nachdem die Briten das Gebiet kolonisiert hatten, konvertierte der Großteil der Bevölkerung von ihrer Praxis des Animismus zum Christentum. Heute bezeichnen sich mehr als 98% der Mizos als Christen. Im späten 20. Jahrhundert begann eine eher kleine Anzahl von Mizo und verwandten ethnischen Völkern in Assam und Mizoram, das Judentum zu praktizieren und behauptete, sie seien Nachkommen von Manasse, einem „verlorenen Stamm Israels“. Sie zählen höchstens einige Tausend bei einer Bevölkerung von mehr als 3,7 Millionen in diesen indischen Bundesstaaten. Die meisten Mizos sind mit dieser Identifizierung nicht einverstanden. Mehrere hundert sind bereits nach Israel ausgewandert, wo sie sich einer vollständigen Konversion unterziehen, um als Juden akzeptiert zu werden. Messianische „B'nei Menashe“-Gemeinschaften dagegen werden von der israelischen Einwanderungsbehörde abgelehnt.

    In Wikipedia ist zu lesen, dass es eine weitere Gruppe von Juden in Indien gab, die „B'nai Israel“, die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts hauptsächlich in Mumbai und der Umgebung der Stadt in der Region Konkan bis nach Karatschi im Norden lebten. Ihre Sprache ist das im Bundesstaat Maharashtra gesprochene Marathi, während die „Cochin-Juden“ im Süden Indiens Malayalam sprechen. Die „B'nai Israel“ behaupten, von Juden abzustammen, die nach den Verfolgungen des 2. Jahrhunderts BCE (v. Chr.) in Galiläa geflohen sind. Sie ähneln dem nicht-jüdischen Volk der Marathen in Aussehen und Sitten, was auf eine Vermischung der Juden mit den Indern schließen lässt.

    Fakt ist jedenfalls, dass sie alle mit den im 8. Jahrhundert BCE aus Samaria bzw. Nordisrael von den Assyrern deportierten altisraelitischen „zehn“ Stämmen nichts zu tun haben. Diese sind damals in der – hauptsächlich mesopotamischen – Völkerwelt unwiderruflich aufgegangen.

    In Zusammenhang mit dieser Thematik ist erwähnenswert, dass der angeblich „priesterliche“ Cohen Modal Haplotyp nicht ausschließlich bei Juden zu finden ist, sondern auch bei Kurden, Armeniern, Italienern, palästinensischen Arabern und einigen anderen Völkern.

    Fazit: Wie alle übrigen Volksgruppen – außer lange Zeit geographisch isolierte indigene Stammesgemeinschaften – sind auch jüdische Menschen genetisch mehr oder weniger gemischte Individuen und Gemeinschaften. Niemand von denen, die im Zuge der Einwanderungswellen der letzten eineinhalb Jahrhunderte nach Palästina gekommen sind, kann heute nachweisen oder plausibel machen, von Exilanten aus der Zeit der jüdisch-römischen Kriege oder davor abzustammen; vielmehr sprechen alle Indizien dagegen. Sich aber dennoch darauf zu berufen, um ein „Recht“ zu behaupten, indigene Völker gewaltsam zu verdrängen und sich ihren Lebensraum anzueignen, bedeutet daher ein permanentes, genozidales Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dazu noch ein Betrug an der Weltöffentlichkeit.
    Die Vorstellung, die seitens der (Neo-) Zionisten propagiert und von der Mainstream-Christenheit für wahr gehalten wird, dass es sich bei den „Alijot“ um eine „endzeitlich-messianische Sammlung“ und „Rückkehr des seit 2000 Jahren zerstreuten jüdischen Volkes in sein angestammtes Heimatland“ handle, in dem es gegenüber Nichtjuden ein „immerwährendes biblisches und historisches Recht auf alleinigen Landbesitz“ habe, ist aber nicht nur ein eklatant unhistorischer Mythos, sondern ebenso eine antibiblische* Anmaßung. Es versteht sich, dass es sich dabei nicht einfach um ein romantisches Märchen handelt, sondern um eine den Weltfrieden gefährdende Ideologie.
    Nebenbei bemerkt, denkt der überwiegende Teil des Weltjudentums der „Diaspora“-Judenheit keineswegs daran, die Sicherheiten ihrer Heimatländer (etwa Nordamerikas) aufzugeben, um an den für sie wohl unsichersten Ort der Welt zu immigrieren, während zeitweise – aus gutem Grund – mehr jüdische Menschen dem Staat Israel enttäuscht den Rücken kehren (vor allem aufgeklärte israelische Intellektuelle) als dorthin aus ideologischen Gründen einwandern.

    * Warum antibiblisch?
    Hier in Kürze die Zusammenhänge neutestamentlich-biblischer Heilsgeschichte:

    Um die Zeitenwende (BCE/CE), während des zu Ende gehenden letzten Jahrhunderts des levitischen Tempelzeitalters und der wie nie zuvor fragmentierten Judenheit, hatte eine aufgeregte, erwartungsvolle Stimmung im Volk geherrscht, nicht nur im Land selber, sondern auf dem ganzen Erdkreis, wo immer es Judengemeinschaften gab. Diese hatten große Uneinigkeit darüber, wie „die gegenwärtige Zeit“ zu beurteilen war. Ob die Zeit schon gekommen war, in der jener große, von Mose geweissagte Prophet der Zeit des Endes des Sinai-Zeitalters auftreten würde, um eine neue Ordnung und ein neues Gesetz einzusetzen? Würden „die Tage des Messias“ bald beginnen (wie die Juden sie erwarteten), „die letzten Tage“ der alten Ordnung? War Johannes der Täufer jener von Jesaia und Maleachi geweissagte messianische Vorläufer, der „im Geist und in der Kraft Elias die Wege des Herrn bereiten“ würde?
    In dieser Atmosphäre gespannter Erwartung trat Jesus von Nazareth auf, kündigte die nahe gekommene Erfüllung der Weissagung Daniels vom Reich Gottes (der neuen Ordnung) an („damit erfüllt würde. . .“) und sandte seine Jünger aus, um zuerst „die verlorenen Schafe des Hauses Israel“ zu sammeln und dann auch jene „aus allen Völkern“, die sich zur Umkehr rufen ließen, bevor das de-facto-Ende der alten, levitischen Heilsordnung im Gericht besiegelt werden würde (70 CE) und ab dann nur noch der Neue Bund Gültigkeit habe anstelle des bisherigen Opferdienstes der Leviten im Jerusalemer Tempelheiligtum. Dies alles geschah und erfüllte sich während der „letzten“ Generation (so nannten es die Rabbinen) zur damals „gegenwärtigen Zeit“.
    Nachdem jedoch im darauffolgenden (zweiten) Jahrhundert die neu entwickelte Religion des Rabbinismus weder Jeschua (Jesus), den Sohn Davids, als den gekommenen und erhöhten Messias (Psalm 110) noch das Neue Testament als hermeneutischen Schlüssel des Alten Testaments anerkennt, befindet sich das rabbinische Judentum immer noch in – freilich vergeblicher – Erwartung der in der Hebräischen Bibel geweissagten, de facto jedoch erfüllten Ereignisse. Dazu kommt, dass die Rabbiner in Verkennung der wahren Bedeutung der prophetischen Aussagen über die Erfüllung der Reichs-Verheißungen diese irdisch-politisch-materiell deuten und erwarten – oder gar gewaltsam, wie einst die Zeloten, selbst erfüllen wollen –, anstatt sie geistlich-himmlisch zu verstehen, entsprechend den Weissagungen von Hesekiel und Sacharja, wie oben erwähnt.
    Nachweis unter: Die zwei Komponenten der Landverheißung,
    in: „Der Anspruch des Neozionismus auf Alleinbesitz Palästinas und seine Rechtfertigung auf dem Prüfstand der Hebräischen Bibel. Eine bibelexegetische Studie mit geopolitischer Tragweite“, Abschnitt 4a, 2020.

    Evangelikale Zionisten haben sich fatalerweise dieser rabbinischen Fehldeutung angeschlossen: Sie verkennen die heilsgeschichtliche Bedeutung der messianischen Sammlung der biblisch-endzeitlichen Periode zwischen 30 und 70 CE und erwarten (und fördern!) allen Ernstes die Einwanderung aller (!) auf Erden unter den Völkern lebenden jüdischen Menschen ins (vermeintlich) für sie reservierte „Erez Israel“ während unserer heutigen (!) Generation – und dies bereits seit hundertfünfzig Jahren.
    Wann werden sie begreifen . . . ?!
    [Ende Exkurs]

    Stimmt die Propaganda der israelischen Administration, dass innerhalb der arabisch-palästinensischen Bevölkerung, zwischen Muslimen und Christen, Spannungen bestünden?

    In einer Umfrage des Palästinensischen Zentrums für Forschung und kulturellen Dialog unter Christen in Bethlehem aus dem Jahr 2006 gaben 90 % an, muslimische Freunde zu haben, 73 % stimmten zu, dass die Palästinensische Autonomiebehörde  das christliche Erbe in der Stadt mit Respekt behandelt, und 78 % führten den anhaltenden Exodus der Christen aus Bethlehem auf die israelische Besatzung und die Reisebeschränkungen für das Gebiet zurück.

    Daniel Rossing, der wichtigste Verbindungsmann des israelischen Ministeriums für religiöse Angelegenheiten zu den Christen in den 1970er und 1980er Jahren, hat erklärt, dass sich die Situation für sie im Gazastreifen nach der Wahl der Hamas deutlich verschlechtert hat. Er machte aber die israelische Westbank-Sperre als Hauptproblem für die Christen verantwortlich. Er erklärte auch, dass die Palästinensische Autonomiebehörde,  die auf die finanzielle Unterstützung der christlichen „Westler“ zählt, die Minderheit fair behandelt.

    Der Bericht des US-Außenministeriums über Religionsfreiheit aus dem Jahr 2006 kritisierte sowohl Israel  für seine Reisebeschränkungen zu christlichen heiligen Stätten als auch die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) für ihr Versagen, antichristliche Verbrechen zu unterbinden. Es wurde auch berichtet, dass ersteres (Israel) den Juden eine Vorzugsbehandlung bei grundlegenden zivilen Dienstleistungen gewährt und letztere (die PA) den Muslimen. Der Bericht stellte fest, dass normale muslimische und christliche Bürger im Allgemeinen gute Beziehungen genießen, im Gegensatz zu den „angespannten“ jüdisch-arabischen Beziehungen. Ein BBC-Bericht aus dem Jahr 2005 beschrieb die Beziehungen zwischen Muslimen und Christen ebenfalls als „friedlich“.

    Fazit: Mehrere Faktoren, die interne Vertreibung von Palästinensern und Palästinenserinnen in Kriegen, die Schaffung von drei zusammenhängenden Flüchtlingslagern für die Vertriebenen, der Zuzug von Islamisten aus Hebron, die Behinderung der Stadtentwicklung unter der israelischen Militärbesatzung mit ihren Landkonfiszierungen und ein laxes und korruptes Justizsystem unter der PA, das oft nicht in der Lage ist, Gesetze durchzusetzen, haben allesamt zur christlichen Auswanderung beigetragen, die seit der britischen Mandatszeit Tradition hat.

    Kairos Palästina
    ist eine unabhängige, überkonfessionelle christliche Initiative, die gegründet wurde, um der christlichen Welt mitzuteilen, was in Palästina geschieht. Sie hat einen Brief an das Wall Street Journal geschickt, um zu erklären, dass

    „im Fall von Bethlehem zum Beispiel tatsächlich der zügellose Bau israelischer Siedlungen, der Würgegriff der Trennmauer und die Beschlagnahmung palästinensischen Landes durch die israelische Regierung viele Christen dazu gebracht hat, das Land zu verlassen“,

    heißt es in dem Brief, der in Ha'aretz zitiert wird. „Gegenwärtig sind nur 13 Prozent des Landes in der Gegend von Bethlehem den palästinensischen Bewohnern überlassen.“

    Lesetipp:
    Schikanieren, vertreiben, töten – 100 Jahre Genozid am palästinensischen Volk .
    Die wahre Geschichte des real existierenden Zionismus – der rote Faden von 1920 bis 2020.“

    Auch im Druckformat als PDF >>> herunterladbar.

      EXKURS (4):

    Sumaya Farhat-Naser vielfach geehrte palästinensische Friedensvermittlerin

    „Thymian und Steine“ – so lautet der Titel der Lebensgeschichte der palästinensischen Christin Sumaya Farhat-Naser, die als Buch erstmals 1995 und in vielen weiteren Auflagen erschienen ist. Geboren 1948 in Birseit bei Ost-Jerusalem, besuchte sie die evangelische Schule Talitha Kumi bei Bethlehem, studierte Biologie, Geographie und Erziehungswissenschaft in Hamburg und promovierte in Angewandter Botanik. 1982 wurde sie an der Universität Birseit in Palästina Dozentin für Botanik und Ökologie. Sie ist Mitbegründerin und Mitglied zahlreicher Organisationen, u. a. Women Waging Peace an der Harvard-Universität und von Global Fund for Women in San Francisco. Von 1997 bis 2001 war sie Leiterin des palästinensischen „Jerusalem Center for Women“. Als Friedensvermittlerin ist sie vielfach ausgezeichnet, u. a. 1995 mit dem Bruno-Kreisky-Preis für die Verdienste um die Menschenrechte, 1997 mit dem Evangelischen Buchpreis des Deutschen Verbands Evangelischer Büchereien, dem Versöhnungspreis Mount Zion Award, 2000 dem Augsburger Friedenspreis und 2011 dem AMOS-Preis für Zivilcourage in Religion, Kirche und Gesellschaft. 1989 hat Sumaya Farhat-Naser die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät der Universität Münster erhalten.

    Mit ihrem Bericht will sie versuchen, die weitgehend unbekannte Realität der palästinensischen Erfahrungswelt und die tiefgreifenden Veränderungen in der palästinensischen Gesellschaft darzustellen. So wurde sie zur Sprecherin und Zeugin ihres Volkes, das 1948 seine Heimat verlor und in alle Welt zerstreut wurde. Ihre Erfahrungen lassen uns am palästinensischen Alltag im Westjordanland vor und nach der Besetzung von 1967 teilhaben – an einem anhaltenden Zustand der Entrechung und der Demütigung, der 1987 in der Intifada explodierte.

    In Friedensinitiativen und Frauengruppen sowie in Seminaren mit Jugendlichen setzt sie sich seit Jahrzehnten für Dialog und Gewaltverzicht bei der Lösung des Nahostkonflikts ein. In mittlerweile mehreren Büchern und auf zahlreichen Vortragsreisen hat Sumaya Farhat-Naser von ihrer Arbeit und vom Alltag unter Besatzung und die politische Lage in Palästina berichtet.

    2013 schrieb Frau Farhat-Naser „Im Schatten des Feigenbaumes“: „Unser Land wird uns systematisch weggenommen". Ihre politisch brisante Aussage über israelischen Landraub im palästinensischen Westjordanland belegt Sumaya Farhat-Naser überzeugend und gibt damit Einflick in eine Realität der Verdrängung, die in Europla kaum wahrgenommen wird. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) kommentierte:
    „Da berichtet eine unbestechliche Zeitzeugin, deren Engagement in einem tiefen Glauben in gewaltfreien Widerstand wurzelt.“

    Der 2017 erschienene Band „Ein Leben für den Frieden“ zeichnet anhand einer Auswahl ihrer Texte ihren Lebensweg bis in die Gegenwart nach. Sie lebt in Birseit.

    Weitere Werke, zum Teil auch in englischer Übersetzung erschienen:
    „Verwurzelt im Land der Olivenbäume. Eine Palästinenserin im Streit für den Frieden“ (2015).
    Dies wurde kommentiert: „Es ist ein Buch über Leiden und über die gewaltige Arbeit, nicht beim Erleiden stehenzubleiben, sondern Selbstbewusstsein, Widerstand und Zuversicht zu schaffen. Es ist politische Dokumentation und politisches Manifest zugleich.“

    „Disteln im Weinberg. Tagebuch aus Palästina“ (2012). Die NZZ schrieb dazu: „Die Autorin strahlt eine Zuversicht aus, von der man bei all den geschilderten Elendsverhältnissen beim besten Willen nicht weiss, worin sie gründet. Die Stärke von Sumaya Farhat-Naser liegt darin, dass sie trotz allem keinen feindlichen Ton gegenüber den Israeli anschlägt.“

     

    10. Was nottut und warum

    In seiner Rede erwähnte Bischof a. D. Abromeit (s. o.):

    „Ein eindrückliches Beispiel eines solchen Engagements für Frieden zeigt der Weg eines evangelisch-lutherischen Christen aus der Bethlehemer Gemeinde:
    Daoud Nassar stammt aus einer christlichen Familie, die 1916 einen Weinberg bei Bethlehem erworben hat. Heute ist das Land umgeben von Siedlungsprojekten, mit denen die israelische Regierung immer tiefer in die palästinensischen Gebiete eindringt. Die Familie Nassar hat auf ihrem Land das Projekt 'Tent of Nations' errichtet, in dem christliche und muslimische Jugendliche aus der Region und der ganzen Welt einander begegnen. Direkt am Eingang des Areals steht ein Stein, der in verschiedenen Sprachen das Programm des Projekts deutlich macht: 'Wir weigern uns Feinde zu sein'. Hier geht es friedlich zu. Auch als 2014 die Bulldozer anrückten und 1.500 Obstbäume zerstörten, hielten die Verantwortlichen des Projekts an ihrer Linie fest. Auf dem Rechtsweg versucht die Familie transparent und friedlich ihren Landbesitz zu schützen und abzusichern.“

    (Aus: „Bethlehem – Faszination und Konflikt: Das ambivalente Erbe einer 'heiligen Stadt', in: Israel & Palästina II-III 2020. „25 Jahre Dar-al-Kalima“, AphorismA Verlag, Seite 121f).

    Worte von Rabbi Jesus an seine Nachfolger:

    „IHR seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen sein. So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“
    Matthäus 5,14&16. >>>
    >>> Ein Foto zeigt diese Schriftstelle aus der „Bergpredigt“ dreisprachig auf einem Stein beim Zugang zu „Tent of Nations“.

    Die Zufahrtsstraße, die aus östlicher Richtung zum „Zelt der Nationen“ auf Dahers Weinberg  hinaufführt (an der neueren jüdischen Siedlung Neve Daniel vorbei), wurde von Saboteuren mit Felsblöcken unterbrochen, sodass Besucher/innen von da an zu Fuß weiter müssen.
    Siehe auch den ausführlichen Bericht: „Protest gegen die Zerstörung der Obstfarm eines christlichen Palästinensers in Bethlehem durch das israelische Militär“, durch PAX CHRISTI ÖSTERREICH – Menschen machen Frieden, publiziert 29. Mai 2014.

    Dieses Friedensprojekt mit nachhaltiger Biolandwirtschaft der Familie Nassar* ist – gemeinsam mit dem palästinensischen Nachbardorf Nahalin** – zwischen den rasch expandierenden jüdischen Siedlungen Neve Daniel und Betar Illit des Etzion-Siedlungsblocks (s. o.) eingekeilt. (Im 2008 gescheiterten „Olmert-Friedensplan“ wären Nahalin und Dahers Weinberg aus dem jüdischen Etzion-Siedlungsblock ausgespart geblieben.)

    Neve Daniel ist seit kurzem mit einer Jeschiwa ausgestattet, einer jüdischen Talmud-Hochschule (Foto: Neve Daniel von Nassars „Dahers Weinberg“ aus gesehen, im Vordergrund die 2018 noch als Baustelle bzw. in Fertigstellung befindliche Jeschiwa).

    * Lesetipp: „Zelt der Völker – Dahers Weinberg bei Bethlehem“.  AphorismA Verlag 2016, Kleine Texte Nr. 39 (€ 5,00).

    ** Die Verantwortlichen der Abwasserbehandlung von Betar Illit pumpten Abwasser auf die Mandel- und Traubenkulturen an der Westseite von Nahalin, verunreinigten so das Grundwasser und verursachten schwere Schäden an den Ernten, sodass die palästinensischen Besitzer die Flächen wegen der hohen Abwasserbelastung nicht mehr betreten konnten.

    Anmerkung: Gerechtigkeitsmotivierte, unabhängige jüdisch-israelische Zeitungsleute wie >>> Gideon Levy und >>> Amira Hass decken laufend derartige Übergriffe gegen friedliche Einheimische auf und veröffentlichen sie in Berichten und Kommentaren von Ha'aretz, der renommierten (und ältesten) israelischen Tageszeitung. Beide wurden für ihren unabhängigen und investigativen Journalismus mehrfach mit Bürgerrechts- und Menschenrechts-Preisen ausgezeichnet.

    Siehe auch The Villages Group, bis heute keine formale Organisation, sondern ein Zusammenschluss von Einzelpersonen, die das Gefühl haben, dass die Situation sie zum Handeln aufruft. In Wer sind wir?"  schreiben sie von sich:

    „Wir operieren weder unter einem Banner oder einer Ideologie, noch führen wir organisierte Advocacy-Kampagnen durch. Anstatt Siedler oder Soldaten zu konfrontieren (wo wir weniger effektiv sind), entscheiden wir uns stattdessen, dort zu arbeiten, wo wir am effektivsten sein können: im menschlichen Bereich."

    Auch dokumentieren sie laufend Übergriffe wie in den südlichen Hügeln von Hebron (South Hebron Hills). Dazu einige aktuelle Beispiele: Vorfälle in At-Tuwani (Juni 2020), Gegen die Zerstörung durch Siedler wehren und Erschütternder Bericht über Harun Abu Aram aus dem Dorf Ar-Rakeez" (04.01.2021) mit dem diesbezüglichen Aufruf (12.01.2021, mit deutscher Übersetzung).

    Wer beobachtet, wie extremistische jüdisch-nationalreligiöse Siedler im Westjordanland tagtäglich direkt, ungeniert und frontal – und weitgehend unbehelligt, meist sogar unter dem Schutz der IDF – ohne Anlass  auf die nichtjüdische Landbevölkerung in unfassbar gehässigen Attacken losgehen, die an Sadismus denken lassen, stellt sich bald einmal die Frage: Woher dieser Hass? Dazu mag folgende Hintergrund-Studie Aufschluss geben (als PDF herunterladbar, auch auf Englisch verfügbar):

    Welchen Wert misst die nationalreligiös-fundamentalistische Orthodoxie dem Leben nichtjüdischer Menschen bei? Eine Studie zum Verständnis des israelischen Chauvinismus anhand seiner religionssoziologischen Wurzeln und die Auswirkungen auf Israels Militarismus und sein Demokratieverständnis.“

    Daoud Nassar (Vorname arab. „David“) hat während seiner Jugend unter anderem in der oberösterreichischen Landeshauptstadt Linz studiert und dabei auch ein Jahr lang die evangelische Bibelschule auf Schloss Klaus besucht. Ihm wurden Auszeichnungen für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und besondere Verdienste für den interkulturellen Dialog (2018 und 2019) sowie der „Michael-Sattler-Friedenspreis“ des Deutschen Mennonitischen Friedenskomitees (2007) verliehen.

    Nebenbei: Die oberösterreichische Stadt Steyr ist eine Partner-Stadtgemeinde von Bethlehem.

    Was tut not?

    Zunächst einmal die Not bekannt machen: Die Fakten herumerzählen, weiterschicken und neue Freunde/Freundinnen und Interessenten/innen gewinnen, Netzwerke bilden, Proteste und Petitionen initiieren, Leserbriefe schreiben, Medienleute und Politiker/innen informieren und an Gerechtigkeit appellieren. Insbesondere ist es nötig, Christen und Christinnen, die sich – ahnungsloserweise – nur an der Propaganda der israelischen Administration, ihrer zahllosen, krakengleichen und oft als „unabhängig“ getarnten Lobby-Organisationen und vor allem der spendensammelnden „Israel-Freundeswerke“ orientieren, von der real existierenden Situation aufzuklären. Dies ist umso wichtiger, als von höchsten politischen Stellen ein falsches Bild propagiert wird.

    Daher wäre die weitestmögliche Bekanntmachung und Verbreitung dieses dringenden Aufrufes vonnöten:

         >>> Information_über_das_bedrohte_Friedensprojekt_'Zelt_der_Nationen'_bei_Bethlehem

    Im Widerspruch zur politischen Propaganda des Besatzerstaates veröffentlichte der amtierende Bürgermeister von Bethlehem, der Christ Anton Salman, am 15. Oktober 2018 eine lesenswerte Stellungnahme „in Bezug auf die Bemerkungen des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu über Bethlehem und die Situation der palästinensischen Christen“ (Netanjahu verzerrt die Realität der palästinensischen Christen). Hier ein Auszug daraus in der inoffiziellen Übersetzung von Passagen der Stellungnahme von Adv. Salman:

    Stellungnahme von Bgm. Anton Salman (Bethlehem) zu PM Benjamin Netanjahu:

    „Wenn Netanjahu tatsächlich besorgt ist über die Situation der palästinensischen Christen, hierbei insbesondere in der Bethlehemer Umgebung, dann würde er jene 22,000 Dunum Land zurückgeben, die illegal für die Expansion der völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen annektiert wurden. Er würde die Mauer niederreißen, die Bethlehem zum ersten Mal seit 2000 Jahren Christentum von Jerusalem trennt, er würde aufhören, die Bewegungsfreiheit der PalästinenserInnen einzuschränken […] Allein in Jordanien, nur wenige Kilometer von uns entfernt, leben mindestens 20.000 palästinensische Christen aus Bethlehem, denen die Familienzusammenführung verwehrt bleibt und die Bethlehem aufgrund der israelischen Restriktionen nicht einmal besuchen können, auch nicht, um Weihnachten zu feiern. […]

    Wir möchten Netanjahu dazu raten, Christen nicht länger dafür zu benutzen, die israelische Besatzung schön zu reden. Das Beste, was er für eine Zukunft in Frieden und Koexistenz, in der die christliche Bevölkerung wieder gedeiht, tun kann ist, seinen Verpflichtungen innerhalb des internationalen Rechts, inklusive Resolution 478 bezüglich Jerusalem und 2334 bezüglich Siedlungen, nachzukommen; die illegalen kolonialen Siedlungen und die Annexions-Mauer, die Bethlehem umgibt, abzureißen; die Besatzung von Palästina vollständig zu beenden und den Menschen die Rückkehr in ihre Städte zu erlauben. […]

    Ich möchte die Gelegenheit nutzen, alle Kirchen in Jerusalem wie auch den Vatikan dazu aufzurufen, ihre Stimmen gegen den Missbrauch von Religion für politische Zwecke zu erheben. Es kann nicht mehr toleriert werden, dass die Bibel fälschlicherweise dazu genutzt wird,* Verbrechen und Verletzungen – die entgegen der von Jesus Christus verbreiteten Werte stehen – zu rechtfertigen.“

    Soweit der amtierende Bethlehemer Bürgermeister Anton Salman.

    * Für Interessierte an fundierter biblischer Exegese könnte diese Studie anhand von drei repräsentativen Fallbeispielen interessant sein: „Die Instrumentalisierung des messianischen Anspruchs durch den religiös-nationalistischen Zionismus“ (PDF herunterladen).

    Wer kann, hat genügend Möglichkeiten auch der materiellen Hilfe für Bethlehem: Vor allem die Unterstützung des privaten Familienprojekts mit Biolandwirtschaft >>> „Tent of Nations“, das infolge des jahrzehntelangen Versuchs der Siedlerlobby, ihren Weinberg zu enteignen, um darauf eine weitere jüdische Siedlung mitten im Etzion-Block zu errichten, höchst gefährdet ist. Eine einfache Möglichkeit besteht etwa darin, die Pflanzung eines Olivenbaumes zu sponsern (“Plant a tree for a healthy environment & a better future”).

    In Bethlehem gibt es auch den Förderverein Bethlehem-Akademie für die Bildungseinrichtung Dar al-Kalima (s. o.).
    Und wer den Großraum Jerusalem & Bethlehem bereist, ist im Gästehaus der Familie Anastas (s. o.) warmherzig willkommen!

    Nachwort: Was bedeutet (hebr.) „Schalom“ und (arab.) „Salaam“?
    Es beinhaltet mehr als das einfache Wort „Friede“, nämlich die Bedeutung von „Wohlbehaltenheit, Unversehrtheit, Gesundheit, Heil und Wohlbefinden“.
    Das hocharabische „As-salaamu ʿalaikum“ setzt den Artikel davor: „Der  Friede sei mit euch“. Was meinen arabische Christen, wenn sie einander mit „dem“ Frieden grüßen? Bevor Jesus diese Welt verließ, versprach er seinen Nachfolgern – die er vertraulich „Freunde“ nannte –, dass er ihnen seinen Frieden gebe: „Nicht so, wie die Welt gibt, gebe ich euch.“   Nicht der „Friede“, bei dem nur die Waffen schweigen, nicht die Grabesstille des „Friedhofs“, nicht die „Befriedung“ der Besiegten. Der Friede von Jesus, dem geweissagten „Friedefürsten“ (Jesaia 9,5), der durch seinen Geist, den er sendet, Friedlose zu Friedvollen und Unfriedensstifter zu Friedensstiftern machen kann – dieser  Friede ist es, den wir einander wünschen und den jede/r erleben kann, der/die das Wort seines  Friedens annimmt.

Weiter zur Andacht:
Was würde Jesus zu den lange Zeit Unterdrückten sagen?
Wie würde er ihre Hoffnung heute am Leben erhalten?

Lesenswert: DOKUMENTATION: Der real existierende Kolonial- und Apartheid-Staat und seine Strategien.

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© Fritz Weber, 25. Dezember 2020, ergänzt Dezember 2021. benaja [at] gmx.at